Wenn man über sein Leben berichten will, wird man mit dem Problem konfrontiert, sich einerseits zu erinnern und andererseits zugleich festzustellen, dass man die einst gegenwärtigen Situationen unter einem erfahrungsgemäßen Hintergrund der Entwicklung neu betrachten muss; denn durch die im Leben erlebten Erfahrungen erfährt die erinnerte Vergangenheit einen Bedeutungswandel durch den die bloße Erinnerung von Situationen in einen Kontext gestellt wird. Es handelt sich bei allen Erinnerungen immer um einen Bedeutungswandel längst vergangenen Erlebens. Diese aus der Erfahrung im Leben notwendige Umdeutung einer erlebten Vergangenheit dient einerseits der Aufdeckung eines prozesshaften Sinnzusammenhanges und zugleich der Höherpotenzierung rein aneinander gereihter Anekdoten. Es sind die Lebenserfahrungen, die bloße Erinnerungen auf eine höhere Seins- und Bewusstseinsebene eines hintergründigen Sinnzusammenhanges heben. Diesen können wir – wie es in der Musik der Fall ist, überhaupt erst feststellen, wenn er, wie ein Musikstück, verklungen ist. Allein dieser spirituelle hintergründige Zusammenhang lässt den Menschen erkennen, dass er selbst im Leben immer nur ein Glied in einer Kette von wechselnden Situationen ist und nur im Kontext zu seiner Herkunft und Umwelt steht. Darum beginnt jede Biographie bereits vor der eigenen Geburt – bei der Geschichte der Eltern.
Meine Eltern
Väterlicherseits komme ich aus einer schwarz-katholischen Familie Oberschlesiens, mütterlicherseits aus einer sehr liberalen protestantischen Familie aus Leipzig, wo bereits im 19. Jahrhundert der Protestantismus säkularisiert wurde und wie gesagt, sehr liberal war. Dieser konfessionelle Gegensatz war für mein Leben sehr prägend.
Mein Vater (1881*) war der jüngste Sohn von 5 Geschwistern und zeigte wohl sehr früh ausgeprägte religiöse Ambitionen, so dass es nahe lag, ihn als 14-Jährigen auf ein Kolleg der Salvatorianer nach Rom zu geben. Als Kind tiefreligiös, absolvierte er in Rom die Schule, trat danach in den Orden ein und wurde um 1900 zum Priester geweiht. Anlässlich einer Fremdenführung zweier schwedischer Damen im Vatikan lernte er die Schriftstellerin und Kinderpsychologin Ellen Key, zusammen mit deren Freundin Vera Atmer, kennen. Beide Frauen versorgten meinen Vater mit den philosophischen Schriften Feuerbachs und Hegels (beide Werke standen auf dem Index). Diese Werke bestimmten meinen Vater stark und führten ihn zu einer Glaubenskrise. Ferner führte sein übermäßiger Drang und das vom Kloster verfügte Verbot, Musik zu studieren, und der Beschluss zur „Besserung“, als Missionsprokurator nach Indien gehen zu müssen, dazu, dass er mit Hilfe von Vera Atmer, seiner späteren – ersten – Frau, 1904 aus dem Kloster flüchtete. Er berichtete über die Flucht in seinem ersten Buch: „Aus dem Tagebuch eines römischen Priesters“. Er flüchtete damals nach Leipzig, weil diese Stadt liberal-protestantisch war und er vor allem am Konservatorium Musik bei Max Reger studieren wollte. Er selbst wurde Komponist und später Lehrer am Konservatorium.
Obwohl seine 8 Jahre ältere Frau keine Kinder haben wollte, „erzwang“ er die Geburt seines ersten Sohnes, Erland.
Hier setzt der erste spirituelle Aspekt im Leben meines Vaters ein: Denn er hatte die Berufung – wenn für ihn auch vorerst unbewusst – einen Sohn zu zeugen. Darum auch der gewaltsame, aber notwendige Austritt aus dem Kloster, wobei mein Vater selbst sich dieser Berufung wohl nicht bewusst war. Seine damaligen Erklärungen für seinen Austritt waren: Musik zu studieren sowie ein aufkeimender religiöser Zweifel, den er durch Lektüre der auf dem Index stehenden Schriften erfuhr (Hegel, Feuerbach, Nietzsche etc.) und nicht zuletzt die Gespräche mit der Freundin seiner ersten Frau, der schwedischen Kinderpsychologin Ellen Key. Wie er mir selbst bestätigte, war es nicht die Brechung des Keuschheitsgelübdes. Er wurde exkommuniziert und brach selbst mit dem katholischen Glauben und blieb bis zu seinem Tod Atheist, ja sogar Nihilist.
1914 ging mein Vater in den Weltkrieg nach Wilna. Als er 1919 zurückkehrte, war seine erste Frau mit dem Sohn Erland (den er sehr liebte) nach Schweden in ihre Heimat gegangen und die Ehe wurde geschieden. In Leipzig lernte er meine Mutter kennen, die er 1927 heiratete.
Meine Mutter (1895*) stammt aus einer gut bürgerlichen Familie. Sie erlernte den Beruf einer Bilanzbuchhalterin, war im 1. Weltkrieg im Heereshauptquartier in Warschau und stand nach dem Krieg bis zu ihrer Ehe im Beruf. Mein Großvater war ein Naturkundler-Heiler und gehörte religiös der Richtung Jakob Lorbers an. Es waren wohl keine Kirchgänger, aber wie meine Mutter mir berichtete, gab sie als junge Frau im Kindergottesdienst Unterricht, verließ aber bald die konfessionelle Kirche. Sie war zeitlebens ein tiefreligiöser Mensch (Mystikerin) und befasste sich mit Esoterik, gehörte jedoch keiner Sekte an. Sie war keine Frömmlerin und konfessionell sehr tolerant.
Vater Theologe – Mutter Mystikerin
Oft bin ich gefragt worden, wie diese Ehe „funktioniert“ habe! Dank meiner Mutter sehr gut, denn mein Vater hatte nach dem Austritt aus dem Kloster auch seine sehr ausgeprägte Libido erkannt, was ich (in Praxis) erst sehr spät mitbekam und was leider zu großen Spannungen zwischen mir und meinem Vater führte – hierbei erlebte ich erstmalig, dass meine Mutter „der mich rettende und beschützende Engel“ in meinen Leben immer war. Meine Mutter hat immer gewusst, dass sie mich als Sohn bekommen würde. Für meinen Vater zählte dagegen nur der 1. Sohn, aus seiner erstens Ehe mit der Schwedin Vera Atmer. Ich war ihm fremd und wahrscheinlich sogar eine Enttäuschung.
Am 27. Januar 1929 kam ich zur Welt und mein Vater – der große Auftritte und festliche Anlässe sehr liebte – veranstalte eine große Ankündigung meiner Geburt, obwohl ich nach 36-stündigen Wehen und einer Zangengeburt (meine Seele muss sich wohl heftig gesträubt haben, auf der Erde zu inkarnieren – was ich heute sehr gut verstehen kann) meinem Vater dargereicht wurde, er gesagt haben soll: „Das ist mein Sohn? Das ist ja nur eine Nase!“, wohingegen der Professor ihn darauf aufmerksam machte, dass ich doch immerhin schon ein richtiges Gesicht habe und die meisten Babys nur eine Steckdose im Gesicht hätten.“
Meine Taufe – ein Jahr später – ging wie bei Till Eulenspiegel daneben – sie war ja auch gar nicht der Anlass für ein in den Zeitungen angekündigtes Fest, sondern nur der Vorwand für den Einzug in die noble Wohnung Grassistraße, Ecke Beethovenstraße, zu der alles, was Rang und Namen hatte eingeladen worden war. Dabei sollte die in der Thomaskirche stattfindende, aber geplatzte Taufe (keiner der Anwesenden, weder mein Vater noch die Paten waren konfessionell) von meinem Vater als ehemaligen Priester – wahrscheinlich unter viel Gewitzel und Gelächter – nachgeholt werden, indem mir mein Vater, wie er später vermerkte, „seinen päpstlichen Segen“ spendete. Mit anderen Worten war mein „religiöser Start“ ins Leben vorerst ein totaler Flop.
Meine frühe Kindheit war dennoch sonnendurchflutet, heiter, wohlbehütet und sehr komfortabel. Meine Mutter betete mit mir und die Kindermädchen störten mich noch nicht. Ich hatte wundervolle Bilderbücher (Märchen) und beschäftigte mich sehr gern allein mit Mosaiken, Malen und Basteln. Das änderte sich schlagartig mit der Ankunft meiner Schwester, die ich wohl nicht sehr begeistert fast 5 Jahre später „begrüßt“ habe – die Kindermädchen und das Gewese um meine Schwester waren störend, und ich zog mich in mein Zimmer zurück, wo ich nicht gestört werden wollte.
1933 kam meine Schwester Lydia zur Welt. Damit änderte sich meine Rolle als Einzelkind der Familie grundlegend. Wenn ich mich richtig erinnere, so war meine Haltung zu meiner Schwester eher ablehnend; ich zog mich auf jeden Fall in meine Welt zurück und war nur insofern froh, als von da an die Kindermädchen ein volles Programm an Zuwendung meiner Schwester zuführten. Mein Vater verplapperte sich einmal, als er seine Tochter auf dem Schoß hatte: „Und dich Süße wollten wir erst gar nicht haben, welch glücklicher Unfall!“
Meine Schwester merkte sich nur den ersten Teil der Aussage: Sie sei nie erwünscht gewesen! Bis zum heutigen Tag, erwähnt sie das immer wieder mir gegenüber.
Eigenartiges Kind
Aus späteren Kommentaren von Freunden meiner Eltern zu meiner Kindheit entnehme ich, dass ich ein eigenartiges Kind gewesen sein musste. Noch bei der Beerdigung meines Vaters bemerkte ein ehemaliges Kindermädchen: „Sie sind ein sehr hochmütiges Kind gewesen und haben mich angewiesen, Sie nicht zu stören.“ Auch im Kindergarten (Montessori) bin ich aufgefallen, als ich durch Zufall in den Raum der Kindergärtnerinnen gelangte und dort an der Wand Dürers Radierung „Melancholie“ entdeckte. Dem hereinkommenden Fräulein Zanke (Nomen est omen – sie war eine hager-dürre, finster dreinschauende Frau mit gelblicher Haut, sicher krank) verkündete ich strahlend, dass ich dieses Bild auch habe und es zu meiner Bildersammlung gehöre. Fräulein Z. verwies mich, dass das nicht stimme, weil ein 5-jähriges Kind so etwas nicht haben könne. Darauf habe ich so heftig insistiert, dass sie mich nach dem Kindergarten nach Hause bringen musste und ich ihr den Beweis lieferte. Ich weiß noch, wie verlegen sie wurde und mich erschreckt ansah – sicher war es ihr vor meinen Eltern auch peinlich – Sie hat mich seitdem immer gemieden – ich war ihr wohl unheimlich.
Im Kindergarten war ich zusammen mit der Enkelin von Hofmann von Fallersleben, Ellen. Ihre Eltern waren Freunde meines Vaters und unsere Kindermädchen betreuten Ellen und mich. In der Bibliothek von Ellens Vater gab es die berühmte Bilderbibel von Schnorr von Carolsfeld, die wir beide regelmäßig durchblätterten. Zu Nikolaus (das Fest wurde mit allen Freunden der Familien zusammen gefeiert) gaben wir Kinder unsere Wunschzettel für Weihnachten ab, auf dem ich mir diese Bibel wünschte. Zu meiner großen Enttäuschung brachte mir der Weihnachtsmann ein absolut blödes Buch (Von der Wiege bis zur Bahre) mit hässlichen Stichen, und mein Vater erklärte mir, dass sei das Buch, was ich mir gewünscht hätte – ich war sehr irritiert darüber, weil ich dieses Insistieren meines Vaters nicht verstand.
In der ersten Schulklasse war mein Vater anlässlich eines Elternbesuches im Unterricht – wir hatten Religion und der Lehrer hatte eine große Bildtafel aufgestellt, auf der die Erweckung des Jünglings zu Nain von Schnorr v. Carolsfeld dargestellt war. Herr Mückenberger fragte, wer die Geschichte erzählen wollte. Ich meldete mich ganz aufgeregt, erzählte die Parabel und endete mit den Worten: „Ich finde den Herrn Jesus so wunderbar, dass ich mir vor Freude (über die Erweckung) in die Hose machen könnte.“ Mein Vater schrieb das ins Familienbuch und erzählte es mit großem Lacherfolg allen Freunden. Viel später, als Erwachsener, habe ich mir die Bibel antiquarisch suchen lassen und gekauft.
Beim ersten Schulzeugnis, was ich meinem Vater vorlegte, hatte ich auch im Fach Religion eine Eins – ich konnte noch kaum das Wort lesen und fragte ihn, was das sei. Mein Vater meinte dazu nur: Es sei ein völlig unwichtiges Fach, und ich weiß noch heute, dass ich enttäuscht war, in einem so unwichtigen Fach eine Eins bekommen zu haben – schade.
Meine frühe Kindheit verlief unproblematisch. Ich bekam Klavierstunden, übte sehr ungern und erhielt von Musikstudenten sogenannte „Übstunden“, um die ich mich versuchte zu drücken. Sonntags schickte man uns – meine Schwester und mich zum Kindergottesdienst, den ich selbst nicht gern besuchte, aber fühlte, dass man die Kinder aus dem Haus haben wollte. Ein triefnasiges, weinerliches älteres Fräulein erteilte den Unterricht und versprach jedem, der vier Mal hintereinanderkäme, ein Devotionalienbildchen. Auf eins war ich besonders scharf: „Jesus wandelt auf dem See Genezareth“. Nach viermaligem Besuch erhoffte ich mir dieses Bildchen. Aber zu meiner Enttäuschung vergaß Fräulein Z. es, worauf ich sie jedoch aufmerksam machte und sie mir daraufhin widerwillig ein anderes Bildchen überreichte, was ich jedoch energisch zurückwies und auf dem Jesus-Bildchen insistierte. Worauf sie (fast in Tränen schniefend) mir den Vorwurf machte, dass ich doch nicht wegen der Bildchen zum Gottesdienst käme, worauf ich erwiderte: „Allein nur wegen der Bildchen käme ich“! Sie besuchte wenig später meine Eltern, was mich sehr verwunderte, aber den Grund und den Inhalt des Gesprächs erfuhr ich nie. Sicher hat mein Vater daraus eines seiner brillanten ironischen Kabinettstückchen gemacht.
2. Weltkrieg
Der nächste gravierende Einschnitt in meinem Leben kam 1939 mit dem Wechsel an die Oberschule, der Zwangseintritt ins Jungvolk und der Beginn des 2.Weltkrieges. Bereits 1938 hatte ich ein unvergessliches Erlebnis: Ich kam von der Schule und musste über eine Brücke (Pleiße) gehen und sah in das Flussbett hinunter – der Fluss war nur ein Rinnsal und zu beiden Seiten gab es je ein Streifen von ca. 1-2 m Steinboden, worauf viele Menschen standen und von oben mit Unflat beworfen wurden. Aufgeregt erzählte ich dieses Vorkommen zu Hause, erhielt aber keine rechte Erklärung „es handle sich wohl um Juden und man könne darüber nicht sprechen!“ Es war die Kristallnacht gewesen. Wenig später begegnete meiner Mutter und mir auf der Straße ein älterer Herr, den meine Mutter begrüßte, der aber meine Mutter bat, ihn doch nicht zu kennen, weil es ihr schaden könnte. Auf meine Frage, wer es sei, erklärte mir meine Mutter, es sei ihr Arzt, ein Jude, gewesen. Instinktiv begriff ich, dass das Thema „Juden“ gefährlich sei. Ich wusste, dass meine Eltern auch viel mit Juden verkehrten – es waren sehr reiche und berühmte Familien in Leipzig. Gleichsam mit diesen Begegnungen eröffnete sich mir der Zusammenhang mit den Nazis. Eines Tages stand ein junger Pimpf vor der Tür und wollte mich zum Jungvolk-Dienst abholen. Es gab ein Palaver an der Tür – ich wollte nicht und erhoffte mir von meinem dazu kommenden Vater Unterstützung. Das Gegenteil erfolgte – mein Vater fand es sehr gut, dass ich endlich mit Jungen zusammenkam und bei Sport und Spiel selbst ein „richtiger“ Junge werden würde. Ich war maßlos enttäuscht, spürte aber dumpf, dass dahinter mir zwar noch verborgene Gründe (Nazis) stecken müssten. Im September begann der Krieg, mein Vater zeigte uns abends noch einmal die erleuchtete Stadt, die dann für fünf Jahre in Verdunkelung versank und wir im Jungvolk als Melder vormilitärisch gedrillt wurden. Ich hatte das Glück, dass mich mein damaliger Musiklehrer – den wir „Herr Studienrat“ Wächter nennen mussten, aber als Jungvolkführer (Stammführer) „Kamerad“ Wächter – eine absurde Situation. Ich mochte ihn nicht, aber dank meines Vaters und weil ich oft musikalisch zum Einsatz kam, wurde ich von ihm bevorzugt – er verdonnerte mich zum Querflötenspiel und steckte mich ins Jugendorchester. Insofern war ich den leidigen Dienst in der Hitlerjugend los. Im Bannorchester lernte ich meinen ersten Freund kennen, Walter S., der erste Geiger dieses Jugendorchesters. Er war ein Jahr älter als ich und es entspann sich eine Knabenliebe, die ich selbst noch nicht so recht begriff, die aber in meiner Erinnerung als sehr glücklich geblieben ist. Durch den Bombenangriff (1943, am 5. Dezember) wurden wir getrennt. Meine Mutter ging mit uns beiden (Ly und mir) nach Polen zu unserer Verwandtschaft in Ratibor. Walter S. schrieb mir über hundert Briefe, fast immer mit gepressten Blumen. Leider erst viel später habe ich diese Beziehung begriffen. (die Briefe habe ich über den Krieg gerettet und habe sie bis heute noch). Wir beide waren damals 15 Jahre alt.
1942 geschah etwas Merkwürdiges: Mein Vater, der niemals laut wurde, sondern sich immer äußerst diszipliniert verhielt, tobte völlig außer sich vor Empörung (Wut?). Was war geschehen? Ich schlich mich in den Salon und fragte meine Mutter danach. Mein Halbbruder Erland hatte seinen Namen in Segraeus geändert. Den Grund dafür erfuhr ich erst 30 Jahre danach. Mein Vater stürmte also brüllend aus seinem Zimmer mit den Worten: „Ich habe keinen Sohn mehr, warum nennt er sich nicht gleich Hebraeus!!“ Ich stand wie verdonnert da, und sagte nur: „Ich bin doch auch dein Sohn“. Was er völlig ignorierte und was ich einfach nicht begriff. Der Grund für die Namensänderung war folgender: Erland war in Schweden Nazi – polnische Namen (Smigelski) galten als jüdisch. Darum bat Erland seinen Vater, ihm den (verloren gegangen) Adelstitel zu verschaffen, weil Adlige nicht Juden sein konnten. Wir hatten in Deutschland gerade den Ariernachweis erbracht, was etwas problematisch war, weil mein Großvater lange nach dem Ableben seines Vaters geboren worden war, und aus diesem Grund den Adelstitel nicht mehr führen durfte. Viel später beim Sterben soll mein Vater als Letztes nach seinen Kindern gefragt haben: „Wo sind meine Kinder?“ Er hatte sie alle vergrault.
Am dem besagten 5. Dezember 1943 wurde unser Haus schwer bei einem Bombenangriff getroffen und wir flüchteten nach drei schrecklichen Tagen aus der brennenden Stadt nach Ratibor zu der väterlichen Verwandtschaft: zu Onkel Paul und den Tanten Micke und Else. Wir kannten ihre Namen, sie aber nicht persönlich. Für mich sehr alte Menschen, genau wie mein Vater auch, der ja altersmäßig mein Großvater sein konnte. Stockkatholisch spürte man die Abneigung gegen die „Konkubine“ eines ehemaligen Priesters und seinen „unehelichen“ Kindern. Natürlich hatte man im Krieg andere Sorgen und war ja auch längst aufgeklärt – es war aber trotz allem immer ein Spießrutenlauf, was nur dadurch abgemildert wurde, dass mein Vater damals ein bekannter und sehr geschätzter Mann war. Ein Beispiel dafür war Folgendes: Als ich am ersten Tag auf dem Gymnasium war, hatte die Klasse irgendeinen Unfug gemacht und der Lehrer B. ließ die ganze Klasse auf dem Korridor antreten und ging an der Reihe vorbei, indem er jedem eine runterhaute. Ich stand ziemlich am Ende und sah die „Katastrophe“ auf mich zukommen, aber bei mir angekommen, stoppte er seine Aktion, machte nur eine wegwerfende Handbewegung, um dann mit voller Wucht den nach mir noch folgenden zwei Jungs umso kräftiger Backfeigen zu geben. Merkwürdig: Ich war in meiner Schulzeit immer unberührbar gewesen, erinnere mich aber an die vielen Prügel, die andere Klassenkameraden bekommen haben, als wären es meine eigenen.
Weihnachten 1943 feierten wir an einer riesigen Tafel bei Onkel Paul. Die Tische bogen sich – ich hatte noch nie eine solche Menge an Essen gesehen – noch dazu im Krieg, wo es kaum etwas zu essen gab. Meine damals schon erwachsenen Cousinen hatten ihre Verlobten dabei (SS-Offiziere). Göring hatte gerade im Radio lauthals verkündet, das er Meier heißen wolle, wenn ein Bomber nach Berlin kommen würde – wir waren gerade ausgebombt, und obwohl ich selten etwas sagte, ließ ich mich hinreißen und sagte zornig: „Da hat das fette Schwein, der „Meier“, aber sein Maul zu voll genommen!“ Worauf einer der SS-Bonzen aufsprang und mich bei der Gestapo anzeigen wollte. Nur der Intervention von Onkel Paul gelang es, alles herunterzuspielen, aber der Schrecken war groß.
In der Schule befreundete ich mich mit Rainer K. – er war ebenfalls aus dem Reich (Heidelberg) nach Ratibor gekommen, weil auch seine väterliche Familie von dort stammte. Wir sprachen eine andere Sprache als die der groben Schlesier, verstanden uns gut und unternahmen gemeinsam viele Wanderungen (z.B. Schloss Eichendorffs). Ansonsten fühlte ich mich in Ratibor fremd und verloren.
Mit 15 hatte ich im Schlaf meine erste Pollution und war darüber sehr erschrocken, weil ich glaubte, ins Bett gemacht zu haben. Meine Mutter, der ich das erzählte, ignorierte dieses Thema und schickte mich ein paar Tage später nach Leipzig mit der Bemerkung, dass Vati sich freue, mich zu sehen. Ich verstand zuerst gar nichts und begriff es erst, als ich von meinem Vater umfassend sexuell „aufgeklärt“ wurde, was ihm sichtlicht gefiel – mich endlich „zu einem Mann“ zu machen. Er erwähnte alle möglichen sexuellen Praktiken und unter anderem, dass es auch Zwitter gäbe, was eins unserer ehemaligen Kindermädchen gewesen sei. Wieso er das wusste, ist mir erst viel später aufgegangen und ferner auch seine Bemerkung, dass er bei Zeugungsproblemen anderer Freunde auch „ausgeholfen“ habe – einen solchen „Halbbruder“ habe ich nach 30 Jahren über einen merkwürdigen Zufall kennen gelernt. Neben dieser „Sexualstunde“ ergriff mein Vater noch die Gelegenheit, mich religiös-philosophisch „aufzuklären“: Er gab mir ein Buch, in dem „Beweise“ für die Nichtexistenz Gottes standen und bedeutete mir, dass es keinen Gott gebe und dass es doch unsinnig sei, Gott als Mensch (Jesus) anzubeten, der wie jeder Mensch aufs „Klo“ gehen musste, um zu sch…. (Ich spürte damals, dass dieses Argument ein Missverständnis sein müsse, konnte dem aber nichts entgegensetzen.)
Nach dem irdischen Leben gäbe es Nichts und man müsse das Leben nach dem Motto „carpe diem“ leben. Sein ständiger Ausspruch war, „Lebensbejahend“ zu sein.
Erst später erfuhr ich bewusst, dass mein Vater ein totaler Nihilist (zuerst nur Atheist) geworden war. Das konnte ich zwar nie vergessen, es hat mich aber – wie ein flüchtiger Traum – nie bestimmt.
Während des Besuches bei meinem Vater in Leipzig erlebte ich einen der schwersten Bombenangriffe, bei dem uns jedoch nichts passierte und ich froh war, wieder nach Ratibor zurückzufahren (12 Stunden). Von Ratibor fuhr ich jede Woche nach Kattowitz zum Klavierunterricht am Konservatorium und besuchte dort eine weitere Tante (Lena Pillarowna), die selbst eine Pianistin war und einst in Leipzig studiert hatte; ein „verrückter Vogel“, aber dabei von hinreißendem Charme und sehr liebenswert – sie war ein tiefreligiöser Mensch – wir alle liebten sie sehr. Sie sprach polnisch, hörte den Fremdsender ab und machte uns bereits im Sommer darauf aufmerksam, dass die Russen sich schon der deutschen Grenze näherten, so dass wir bereits 1944 nach Deutschland zurückkehrten. Mein Vater hatte uns ein winziges Häuschen auf dem Land in Schönbach (bei Leipzig) besorgt – es war für mich schrecklich – jeden Tag 3 km zum Bahnhof zu laufen, um nach Rochlitz zu fahren. Dort war ich erstmalig in einer gemischten Schulklasse. Anfang 1945 war ich dann der einzige Junge in einer Mädchenklasse – alle Klassenkameraden waren bereits eingezogen worden. Auch ich bekam im April meinen Stellungsbefehl, doch es fuhren keine Züge mehr, um nach Pilsen im Sudentenland zu kommen; und am letzten Schultag wurden wir nach Hause geschickt und mussten 25 km zu Fuß nach Haus wandern, kamen unterwegs in einen Fliegerangriff, bei dem von den 15 Kindern 5 getötet wurden und wir Übrigen wenig später mitten in die amerikanische Front hineinliefen. Es geschah uns nichts und als wir ankamen, war das Dorf schon besetzt. Am nächsten Tag mussten alle männlichen Personen zur Kommandantur. Wir wurden überprüft, ob man beim Militär war. Ein sehr unangenehmer Typ verhörte mich und ich versuchte mit meinen Englischkenntnissen ihm deutlich zu machen, dass ich zwar den Gestellungsbefehl hätte, aber nicht dabei war. Plötzlich sprach er in perfektem Deutsch: „Hau ab!“ gab mir den Freischein, und als ich aus dem Haus lief, sah ich noch den Lastwagen mit allen anderen Männern abfahren: Sie kam in Gefangenschaft. Der unangenehme Typ war ein hasserfüllter ehemaliger deutscher Jude – vielleicht hat mich mein jüdisches Aussehen gerettet, dass er mich so plötzlich freiließ.
Ableben des Vaters
Sechs Wochen später zogen die Amerikaner ab und die Russen besetzten die Gebiete. Ende September hatte es mein Vater geschafft, das seine Familie wieder nach Leipzig ziehen konnte; er hatte ferner eine 5-Zimmerwohnung organisiert (im ehemaligen Rosentalviertel, das einst reichen Juden gehörte und im Krieg verschont worden war). Ich besuchte wieder meine ehemalige Schule und studierte Klavier an der Hochschule für Musik, an der mein Vater Professor war. Ich wurde 17 und nicht mehr ganz so blauäugig wie einst, und mein Vater fand, dass es an der Zeit sei, seinen Jungen nun endgültig in das Mann-Dasein einzuführen. Er „verschrieb“ mir unter dem Motto „Einführung in die Gesellschaft“ eine sehr schöne, 10 Jahre ältere Musikstudentin, Annemarie O., der es gelang, „mir die Flötentöne“ beizubringen, wobei ich jedoch nicht wusste, dass mein Vater ihre „Leistungen“ selbst überprüft hatte und sich angelegentlich nach dem „Erfolg“ bei mir erkundigte, um prompt am Tisch vor meiner Mutter und Schwester Bericht zu erstatten. Es gab einen heftigen Eklat, bei dem mein Vater zu einem Schüreisen griff und auf mich losging. Mutter und Schwester fielen ihm in den Angriff, ich selbst war wie versteinert und verstehe bis heute nicht, wie das passieren konnte. Meine Mutter organisierte sofort eine kleine Wohnung in derselben Straße (Dachzimmer), wo ich von da an wohnte. Meinen Vater habe ich bis zu seinem Tod nicht mehr gesehen, bin ihm quasi an der Hochschule aus dem Weg gegangen.
An der besagten Hochschule lernte ich Dietrich K. kennen, den ich bewunderte ob seiner hohen musikalischen Begabung und suchte ständig seine Gegenwart auf. Das Interesse war nicht gegenseitig – Dieter glaubte, über mich in die so genannte „bessere Gesellschaft“ zu gelangen und hatte ein mir unerklärliches Faible für meine Mutter. Entscheidend war die Begegnung mit Dieter für mich insofern, als ich unbedingt mit ihm zusammen etwas „machen“ wollte. Er spielte Oboe, lehnte es aber ab, vom Klavier begleitet zu werden – er verlangte nach einem Cembalo – ich wusste damals noch nicht einmal, was es für ein Instrument sei und ahnte nicht, dass es DAS Instrument meines Berufes werden sollte. Anlässlich eines Besuches entdeckte ich bei D. ein Buch: Ludwig Klages Graphologie; es war wie eine Initialzündung und ich schlug ihm vor, gemeinsam Graphologie zu studieren, was er ablehnte, weil ich noch zu wenig Ahnung hätte, worauf ich jedoch Unterricht darin nahm und später in Berlin dieses Studium an der FU zum Abschluss brachte. Dietlein, ehemaliger Thomaner, war der Mitbegründer eines Chores mit Musikstudenten/innen. Ich machte mit, obwohl ich nie gerne im Chor gesungen hatte. Aber erstens hatte ich eine sehr schöne Tenorstimme (die ich aber selbst nicht mochte) und zweitens war dieser „Mozartchor“ ein ganz hervorragendes Ensemble, was mich im Leben noch lange „begleiten“ sollte und stark prägte. Wir nannten uns selbst einen „Fabelhaftigkeitsclub“.
1950 machte ich mein Konzertexamen und flüchtete danach sofort nach Berlin vor dem Kommunistengeschmeiss, das mich in der Zone nicht mehr leben ließ. Im gleichen Jahr 1950 verstarb mein Vater, nachdem er auf einem nächtlichen Besuch auf der Straße niedergeschlagen worden war. Der Vorfall ist nie aufgeklärt worden – ob aus politischen Motiven oder persönlicher Rache. Wir haben es nie erfahren, ich lebte schon in Berlin und fuhr nur noch einmal zum Staatsbegräbnis am 5. Dezember nach Leipzig. Auf der Rückfahrt saß ich zufällig im Coupé mit dem Gewandthausdirigenten Konwitschni zusammen, was mein Glück war, denn wir wurden kontrolliert und die Kommunisten wollten mich gefangen nehmen (Mein Vetter wurde kurz danach in Ostberlin auch nach Russland, Workuta, verschleppt – und kam erst 6 Jahre später wieder frei.) Konwitschni, der meinen Vater kannte, bürgte für mich, indem er mich als seinen Assistenten ausgab.
Nach dem Tod meines Vaters ereigneten sich merkwürdige Zustände, mein Vater erschien leibhaftig mehreren Bekannten und Freunden, insbesondere meiner Mutter täglich. Ihre Schwester, die meine Mutter bat, bei ihr zu bleiben, flüchtete sofort, unser 10jähriger Hund nässte sich jedes Mal aus Schrecken ein und winselte, meine Schwester versuchte das Phänomen zu verdrängen und war genau wie ich auch gar nicht mehr zu Hause. Meine Skepsis diesen Berichten gegenüber wurde schlagartig zunichte gemacht, als auch mir am 16.2.1951 mein Vater – an seinem 70. Geburtstag – selbst erschien. Es war für mich ein sehr erschreckendes Phänomen. Ich wohnte als Untermieter bei einer Familie Schulz, der Mann war ein ehemaliger Leibdiener von Hitler, und es waren ganz einfache Menschen. Ich übte Klavier in der „guten Stube“ als es plötzlich eiskalt wurde und ich das Gespür hatte, dass jemand hinter mir stehe. Es beschlich mich eine unheimliche Angst und ich konnte nicht aufhören, weiterzuspielen. Plötzlich trat Frau Schulz (ca. Ende 50) ins Zimmer und bekam einen Schreianfall, fiel auf die Knie und fing laut an zu beten. Ich drehte mich um und vor mir stand mein Vater, aber kurz danach war der Spuk vorbei. Danach ist mein Vater niemanden mehr erschienen.
Berlin
Berlin war für mich ein Bruch im Leben: eine fremde, total zerstörte Stadt, kein Geld und lediglich die Genehmigung, an der Musikhochschule erneut zu studieren. Die Aufnahme an die Kunstakademie und an die FU (hatte mich beworben) hatte nicht geklappt. Nur an der Musikhochschule nahm man mich mit offnen Armen und war sehr enttäuscht, dass ich nicht Klavier, sondern Cembalo studieren wollte. Übrigens kannte man meinen Vater, was aber nicht der Grund für meine Aufnahme war, sondern mein Spiel. Ich litt immer darunter, nur wegen meines Vaters und nicht wegen meiner Leistungen akzeptiert zu werden. Zu diesem Behuf spielte ich unter falschem Namen Prof. von Poschniak vor, um einmal objektiv beurteilt zu werden. Er nahm mich sofort umsonst als Schüler an. Leider flog alles auf, als eine Schülerin nach mir in die Wohnung hereinkam und mich unter meinem richtigen Namen begrüßte. Ich musste sofort gehen, weil es streng verboten war, bei einem anderen Lehrer zu studieren, wenn man Hochschulstudent war. Dort wurde ich aber derart politisch gemobbt, dass ich endlich nach Berlin floh und dort nie mehr Klavier studieren wollte. Der Wechsel zum Cembalo war mein Glück, denn bereits nach dem ersten Semester wurde ich herausgestellt und sollte mit den Berliner Philharmonikern das Cembalo-Konzert von Poulenc spielen. Ich erhielt ferner laufende Angebote an den Sendern, in Berlin zu spielen.
In Berlin fühlte ich mich zuerst gottverlassen und erinnere mich an das erste Weihnachten: Ich war froh in der Hochschule zu üben – es war der einzig warme Raum. Da erlebte ich eine merkwürdige Eingebung; ich spürte oder hörte innerlich, dass ich nie aus Gott herausfallen konnte – schwer zu beschreiben – ein Gefühl der absoluten Geborgenheit und eines „Geführtwerdens“. In dem Moment kam ein Mitstudent (er war Kirchenmusiker) herein und fragte mich, was ich Weihnachten machen würde. Er lud mich ein, mit zur evangelischen Studentengemeinde mitzukommen. Der Einladung folgte ich gern, weil ich nicht mehr allein wäre und wieder in einem warmen Raum sein konnte. Pfarrer Bethge leitete das Seminar. Thema war das Johannesevangelium. Plötzlich sprach mich B. an, ob ich Fragen hätte und mich an der Diskussion beteiligen wolle. Obwohl ich ganz sicher bis dato das Evangelium nie gelesen hatte, war mir alles sofort klar und ich antwortete: es gäbe meinerseits keine Fragen, es ist doch alles verstehbar. Die evangelische Gemeinde wurde so zu meiner ersten bewussten Berührung mit dem Protestantismus. Ich wurde viel von Bethge eingeladen und lernte über ihn Bonhöfers Werke kennen.
Meinen Lebensunterhalt verdiente ich mir mit Klavierunterricht, sang in diversen Chören und im Quartett auf Friedhöfen und im Krematorium, spielte in Konzerten und studierte ab 1952 an der FU Musikwissenschaften und Psychologie. Auch das wieder auf Anregung von Dietrich K., der von Leipzig nach Berlin an die Hochschule gekommen war, wo ich ihn begeistert auf mein Cembalospiel hinwies, er mir aber wieder einen Korb gab und meinte, „wir könnten ja Musikwissenschaften zusammen studieren“, ein Plan, den ich sofort in die Tat umsetzte, um nach meiner Rückkehr vom Wettbewerb aus Genf festzustellen, dass D. wieder in die Zone zurückgekehrt war. Merkwürdig: Alle meine späteren Berufswege „verdanke“ ich dem Wunsch, mit D. etwas Gemeinsames machen zu können. Als wäre das allein der Grund gewesen, ihn kennengelernt zu haben. Ich habe alle seine „Empfehlungen“ in die Tat umgesetzt, studiert und mit Examina beendet, ihn selbst aber erst 40 Jahre nach der Mauer-Öffnung wiedergesehen – darüber war ich traurig.
1952 verlobte ich mich mit Waltraud S., einer Pfarrerstochter (es war wohl mehr eine Überrumpelum) und meine zweite engere Berührung mit dem Protestantismus. Wir beide Kinder von Priestern (ev. und kath.)… Bekanntlich heißt es doch: Pastors Kinder und Müllers Vieh geraten selten, meistens nie! Und es sollte auch nicht klappen. Zur Verlobung (Doppel-Verlobung sogar: die Schwester von Waltraud, Heidi, verlobte sich mit dem späteren Oberbürgermeister von Berlin) kam natürlich die ganze Verwandtschaft von Waltraud, von mir waren lediglich meine Mutter und meine Schwester anwesend. Waltrauds Vetter Wilfried Fritz war auch eingeladen und seine Eltern luden mich für den nächsten Tag nach Potsdam ein. Ich musste sie allein besuchen, weil Waltraud keinen Pass für die Zone hatte. Es war ein sehr schöner Besuch, wir musizierten mit dem älteren Bruder von Wilfried, der zur Verlobung nicht eingeladen worden war und über den ich erfuhr, dass er vor mir mit Waltraud verlobt gewesen war. Merkwürdig, dachte ich! Wahrscheinlich geplant; Wir merkten die Zeit nicht, es wurde abends spät und ich blieb über Nacht. In dieser Nacht verlor ich nicht gerade meine „Unschuld“, entdeckte aber mit Erschrecken, dass ich „Bi“ veranlagt bin, und es stand da für mich sofort fest, die Verlobung mit Waltraud wieder zu lösen, was auch mit einem Knall geschah (Nachtrag: das leitete Werners Mutter sofort in die Wege).
Vom Wettbewerb in Genf zurückgekehrt stand ich Knall und Fall auf der Straße, hatte kein Geld, kein Dach über dem Kopf, war völlig pleite und allein in Berlin. Ich fand eine Unterkunft bei einer Familie von Wrochem, deren Kindern ich Nachhilfe gab und umsonst dort wohnte. Aber nachdem die Kinder trotz Nachhilfe in der Schule sitzen blieben, flog ich raus und fand in Lankwitz einen ausgebauten Dachboden als Unterkunft, wo ich bis zu meinem Auszug 1959 (nach Düsseldorf) wohnte. 1953 lernte ich durch einen merkwürdigen Zufall einen Professor von der Uni kennen, der mein väterlicher Freund wurde und dem ich mein ganzes weiteres berufliches Leben verdanke. Er verschaffte mir ein Stipendium von der Deutschen Studienstiftung, half mir bei meiner Doktorarbeit und unterstützte mich, denn meine Einnahmen waren nach wie vor gering: Klavierstunden, Chorsingen, Konzerte. Etwa zur gleichen Zeit gründeten wir das Ensemble Camerata musicale (Sextett) und tourten sehr erfolgreich durch halb Europa.
Auf Vaters Spuren in Rom
In Rom besuchte ich anlässlich eines Konzertes in der Sancta Cäcilia auch das Kloster meines Vaters, das direkt am Eingang zum Petersdom gelegen ist. An der Pforte öffnete sich nur ein kleines Fenster und ein sehr einfältiger Bruder fragte nach meinem Begehr. Ich sei Tourist und wollte das Kloster besuchen, was er mir verwies und das Fenster wieder schließen wollte, worauf ich mich zu erkennen gab und sagte: Mein Vater habe in diesem Kloster gelebt, woraus er etwas naiv erwiderte: Dann können Sie aber nicht sein Sohn sein.
Durch das Fenster hindurch sah ich im Kreuzgang einen sehr korpulenten großen Mann gehen, der zur Pforte kam und fragte, was los sei. Es war der Pater General, der – wie ich später erfuhr – gerade von einer Audienz beim Papst kam. Konsterniert antwortete der Pförtner: Der Besucher behaupte, sein Vater sei hier im Kloster gewesen und wolle das Kloster besuchen! Sofort wurde die Tür geöffnet und zu meinem Erstaunen verkündete mir der Mönch, dass man das wisse und er sich freue, mir das Kloster zu zeigen. Seine erste Frage war: „Lebt ihr Vater noch?“ „Nein“, sagte ich. „Hat er gebeichtet?“ „Nein“. „Dann werden wir für ihren Vater sofort eine Messe lesen. Sind Sie katholisch?“ „Nein!“ „Sind sie wenigstens protestantisch?“ „Nein!“ „Dann werde ich Ihnen einen Besuch beim Papst ermöglichen, um die Taufe nachzuholen.“
Leider musste ich schon am nächsten Tag in Florenz spielen und die geplante Taufe fiel ins Wasser. Wir kamen an einen Altar in einer Seitenkapelle vorbei, und der Pater konstatierte: „Hier ist ihr Vater zum Priester geweiht worden, und hier hat er sein Gelübde gebrochen!“
Zwei jüngere Mönche begegneten uns, wurden angehalten und fingen nach kurzer Rücksprache einen Gesang an zu intonieren, den angeblich mein Vater damals komponiert hätte. Ich wagte kaum etwas zu sagen und erwähnte nur zaghaft, dass ein Relief-Medaillon an der Wand das Bild eines Papstes sei, von dem mein Vater für seine Arbeit an einer Enzyklika (Doktorarbeit?) ein silbernes Medaillon, zusammen mit einer Taschenuhr, erhalten hätte. Dieser Heilige Vater (Leo, der 13.???) sei ein Heiliger, hieß es, darum seien diese Geschenke Reliquien, die ich selbstverständlich zurückgeben müsste! „Die Uhr ist kaputt und das Medaillon trägt meine Schwester als Kette“, sagte ich.
Ich wurde dann weitergeführt und wir landeten in einem höheren Stockwerk, in einer winzigen Kammer, wo ich dem ehemaligen Novizenmeister meines Vaters, Pater Paolo, vorgestellt wurde. Ich rechnete kurz nach, dieser Pater müsse 100 Jahre alt sein – und er war 97! Es war ein uralter Greis (sah aus wie der Großinquisitor): „Pater Paolo, ich bringe Ihnen einen ganz besonderen Gast, den Sohn von Pater Aniceth. Er ist Heide und konzertiert gerade in Rom. Worauf Paolo antworte: Ja, als Heide können Sie leider niemals im Himmel mitmusizieren. Ironie oder Ernst?
Am Nachmittag hatte ich das Konzert und zu meinem Erstaunen hatte man auf dam Podium noch 16 Stühle aufgestellt, denn das Konzert war ausverkauft. Die Stühle waren für Salvatorianermönche, die sich nach dem Konzert alle vom Sohn ihres ehemaligen Bruders Autogramme geben ließen. Noch eine kleine Bemerkung: Wir waren beim deutschen Botschafter, der immer protestantisch sein musste: Durch meinen Besuch im Kloster kam ich zu spät zum Essen und berichtete wahrheitsgemäß den Grund. Worauf die Gattin des Botschafters bemerkte: O, was für ein Mut, Sie hätten ja in den Bleikammern verschwinden können! (Protestantin!) – Um ein Haar vom Papst getauft, aber es sollte wieder einmal nicht klappen.
Düsseldorf
1959 begann ich an der Musikhochschule (damals noch Konservatorium) in Düsseldorf mit 15 Wochenstunden, weil man meine Einstellung vergessen hatte. Ich war froh, endlich eine Anstellung zu haben und durch ein Angebot als Graphologe verbesserten sich sehr bald meine Finanzen – bzw. diese waren kein Thema mehr. Weihnachten 59 traf dann auch meine Mutter in Düsseldorf ein (Mutter und Schwester waren im September, kurz vor dem Mauerbau, nach Westdeutschland geflüchtet und so waren wir nach über 10 Jahren wieder vereint. Doch nicht für lange, denn meine Schwester wanderte von einem Tag auf den anderen nach Kanada aus („Übrigens, morgen geht mein Schiff nach Kanada – Familie muss man haben, aber weit weg muss sie sein!“ Mutter und ich waren perplex) und meine Mutter zog sich in die Eifel zurück („Junge, ich mache mal Urlaub…“).
Ich selbst startete mit Volldampf ins Berufsleben und erfüllte mir endlich den Wunsch, zeichnen und Malen zu können – mit der Musik stand ich immer mehr oder weniger auf „Kriegsfuß“ – musste aber noch 20 Jahre lang konzertieren. An der Hochschule erweiterte sich mein Berufsfeld: Vorlesungen: Pädagogik, Kinderpsychologie, Musikgeschichte und Latein für die kath. Kirchenmusiker. Klavier und Cembalo, Kammermusik.
Ich selbst nahm ein der Volkshochschule Unterricht in Zeichnen und Malen, Bildhauerei.
Ca. 1967 ergab sich anlässlich einer Vorlesung und auf Anfrage einer Studentin eine Diskussion über den essentiellen Unterschied zwischen weltlicher und kirchlicher Musik. Ich konnte diese Frage nicht sofort beantworten und die Studenten drängten mich, dieses Thema gemeinsam privat zu lösen. Das Ergebnis war der „Montagkreis“, ein Zusammentreffen von Studenten, das über 20 Jahre weiter existierte und zum ersten Anstoß für „meine spirituelle Entwicklung“ wurde. Der Themenbereich weitete sich über Ästhetik, Musikpsychologie und Parapsychologie aus und es wurden auch immer mehr Teilnehmer, denn es hatte sich an der Hochschule herumgesprochen. Zu diesem Kreis gehörte auch meine mir „zugelaufene Tochter“ Eva K. die mit Gerhard bei mir wohnte. Sie war eine latente Epileptikerin, ein unbeschreiblich liebes Kind, die Musik studierte und eines Tages vor meiner Tür stand und mich bat, ihr Vater zu werden – wurde überrumpelt – die Bedeutung dieser Begegnung wurde mir erst nach Jahren klar. Vorerst gab ich zusammen mit meinem Freund Gerhard und Eva an der Volkshochschule sehr gut besuchte Töpferkurse, wodurch ich sehr liebenswerte Menschen kennen lernte – es war wie eine große Familie. Ein Ehepaar gab uns eine Empfehlung (Geheimtipp), in den Ferien nach Formentera zu fahren.
Formentera
Nichts ahnend fuhren wir hin und ich ließ mich überreden, dort einen Bungalow zu kaufen. So wurde Formentera für mich für die nächsten 14 Jahre mein Sommerdomizil. Ich hatte das Haus nicht für mich gekauft, sondern für Gerhard, der mich aber bereits im Jahr darauf verließ und nach Amerika auswanderte. Wieder war mein Leben durch andere bestimmt worden, obwohl ich die Entscheidung, ein Haus zu kaufen, niemals für mich getroffen hätte, war ich zu einem Haus gekommen wie der „Hund zum Tritt.“ Als ich zurück nach Düsseldorf kam, war ich gespannt, was meine Mutter zu meiner so unüberlegten Entscheidung sagen würde. Sie war gegen alle Erwartung begeistert, erklärte Formentera zu ihrem Alterssitz und – welche Duplizität der Ereignisse – berichtete mir, dass auch sie in Waxweiler (Eifel) ein Grundstück erstanden habe, wo sie plane, ein Haus drauf zu bauen. Ich war völlig perplex, denn meine Geldquelle war am Versiegen. Da eröffnete mir meine Mutter, dass sie zu einer Erbengemeinschaft (mütterliche Großeltern) gehöre und ihr somit ein Anteil an einem Mietshaus in Frankfurt gehöre. Dieser Anteil wurde zu Geld gemacht und in Waxweiler stand im darauffolgenden Jahr eine kleine Holzhütte. Dort verlebte meine Mutter das Winterhalbjahr.
Auf Formentera war damals für meine spirituelle Entwicklung entscheidend, dass nicht nur durchgeknallte Hippies und Blumenkinder im Drogenrausch die Insel bevölkerten, sondern auch echt spirituelle Menschen, die sich zu nachmittäglicher Teestunde um mich „scharten“ und durch Gespräche inspirierten. Da ich ja in den vielen Ferien, die ich an der Hochschule hatte, fast ein halbes Jahr dort verbrachte, wurden diese Treffs über Jahre hin zu einer festen Einrichtung.
Als ich im September 1972 von Formentera zurück kam wurde ich von der heftig stotternden Eva ganz aufgeregt empfangen. Sie würde jetzt automatisch schreiben, was sie mir unbedingt zeigen wollte. Es war mir bekannt, dass Eva öfter in somnambule Zustände verfiel und sehr medial veranlagt war, aber diese Exaltation konnte ich nicht zulassen und verwies energisch ihr Ansinnen. Sie blieb aber hartnäckig und erklärte mir, dass auch ich für dieses automatische Schreiben vorgesehen sei.